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Die Sichtweise der großen Meister - Mario Botta

26. September 2023

Architekt*innen sind vielseitige Fachleute: Kreativität, fundiertes Fachwissen und Multitasking-Fähigkeiten sind Teil ihres beruflichen Hintergrunds. Aber was inspiriert sie? Was leitet sie? Und wie setzen sie ihre Visionen um? In dieser neuen Serie von Newsletter-Artikeln porträtieren wir zeitgenössische kreative Köpfe und sprechen über Leidenschaften und Herausforderungen.

 

Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen wirken sich unweigerlich auf die Welt der Architektur aus. Prozesse, Technologien und vor allem neue Herangehensweisen im Design werfen heute viele Fragen in einem sich ständig verändernden Kontext auf. Die ARCHITECT@WORK hat dazu einige Protagonisten der zeitgenössischen Szene interviewt, um eine Reflexion anzustoßen und nützliche Hinweise für die Zukunft zu sammeln.

 

Ein Interview mit Mario Botta von Enrico Leonardo Fagone

 

In Ihrer Arbeit haben Sie den Konnex zum Territorium, zum Lebensraum, in den sich jedes neue Artefakt einfügen muss, um eine Beziehung herzustellen, immer als unverzichtbar betrachtet. Das ist eine Arbeitsweise, die sich in der Entwicklung einer „anthropologischen Dimension“ des architektonischen Werks zeigt, und die in den aufeinander folgenden Phasen der Entwicklung und Realisierung des Projekts immer präsent ist. Wie sehen Sie die Veränderungen in der heutigen Architektur im Hinblick auf die neuen Umweltanforderungen, und was sollte Ihrer Meinung nach die Aufgabe und Haltung der Designer*innen sein?

 

MB: Ich sehe in der Welt der Architektur heute eine ziemlich verworrene Situation – es gibt keine Klarheit. Die Geschwindigkeit verwirrt die Ideen, die Schnelligkeit der Veränderungen macht alles ein wenig undurchsichtig. Ich versuche auch zu verstehen, wohin wir gehen und wohin wir gehen sollten. Die Architektur ist eine solide, konkrete Disziplin, die dennoch große Klarheit braucht. Seit Leon Battista Alberti musste jede historische Phase, jeder kritischer Zustand, den die Architektur auszudrücken vermochte, mit der Verwirrung ihrer Zeit zurechtkommen.

 

Die Architektur ist etwas Bestimmendes, Unveränderliches, das keine Fehler gegenüber der Kultur zulässt, und – ganz im Gegenteil – deren Spiegel sie ist, vielleicht unbarmherzig, aber dennoch mit den Werten verbunden, die in einer bestimmten historischen Periode zum Ausdruck kommen.

 



Unterkunft Fiore di Pietra, Monte Generoso, Schweiz (2013-2017). 
Foto © Enrico Cano

 

In diesen Jahren nach der Pandemie und inmitten des Klimawandels haben wir das letzte Jahrhundert mit großem Enthusiasmus in Richtung einer Modernität durchquert, die in Wirklichkeit schon vorbei war. Stattdessen finden wir uns am Fuße der Leiter wieder. Ich sehe viele Schatten, nicht nur in der Architektur, sondern auch in der Lebensweise der jungen Generation. Wir haben getan, was wir tun konnten, um den Schwung der Konsumgesellschaft zu nutzen, die wir natürlich auch kritisiert haben, die aber gleichzeitig auch eine treibende Kraft war. Wie die Haltung der Designer*innen heute und in Zukunft aussehen könnte, ist nicht leicht zu sagen. Sicher ist, dass wir derzeit in einer Phase leben, in der große Vorsicht geboten ist, vor allem im Hinblick auf die Katastrophen, die sich vor uns abspielen: die Atomkatastrophe, die Klima- und Umweltkatastrophen, wie auch Situationen, die noch nie so deutlich an die Oberfläche getreten sind.

 

Ein Jahrhundert lang haben wir von einem historischen Erbe des Optimismus gelebt, der aus jeder Pore der Gesellschaft sickerte. Jetzt sind wir vor allem mit ethischen Wahrheiten konfrontiert, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Ich wünsche mir daher eine Haltung, die in erster Linie versucht, die tieferen Gründe für die stattfindenden Veränderungen zu verstehen, damit die neuen Generationen vorankommen können. Es handelt sich in vielerlei Hinsicht um eine dramatische Frage, gewissermaßen die Hamlet-Frage: „Sein oder nicht sein?“ Ich erlebe diesen Zustand der Ungewissheit vor allem in der Disziplin, mit der ich versuche, unsere Weltanschauung zu filtern, das heißt durch die Werkzeuge der Architektur.

 

Sie haben über viele Jahre hinweg immer wieder die Bedeutung der Beziehung zwischen Natur und Architektur und die zentrale Rolle des Individuums hervorgehoben. Viele der Werte, die diesen Gleichgewichten zugrunde liegen, werden heute oft in Frage gestellt. Welche Strategie kann Ihrer Meinung nach umgesetzt werden, um sie zu bewahren? Welche Fallstricke sehen Sie, aber auch welche Chancen kann die Welt der Architektur heute für die Designgemeinschaft bereithalten?

 

Welche Möglichkeiten bietet die Welt der Architektur? Solange der Mensch existiert, wird er ein Zuhause brauchen. Der Mensch kann nicht in der Natur leben, er kann nicht wie ein Tier leben, er kann nicht ohne Schutz vor dem Wetter, der Hitze, der Kälte leben. Der Mensch ist ein sehr zerbrechliches, sehr unsicheres Wesen geworden. Und deshalb muss er für sich selbst sorgen, um zu überleben. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Architektur untrennbar mit dem Leben des Menschen verbunden; man kann nicht leben, ohne einen angemessenen, gebauten Raum zu haben. Früher genügte es, sich gegen Tiere zu verteidigen. Heute muss man sich gegen Viren, gegen die Natur verteidigen, die immer mehr bösartige als gutartige Bedingungen bietet. Die Bewältigung des ökologischen Gleichgewichts ist daher eine Voraussetzung für das Überleben.

 



Nationales Jugendsportzentrum, Tenero (4. Etappe 2019-2023) Dies ist die letzte Etappe des Ausbaus des Sportzentrums, der mit der zweiten Etappe (1990-2001) begann und mit der dritten Etappe (2006-2013) fortgesetzt wurde. 
Foto © Enrico Cano

 

Die Welt der Architektur muss daher nach neuen Möglichkeiten suchen, auch in ihrer Geschichte, in der Erinnerung, in der Technologie. Für mich ist dies der einzige mögliche Weg, um angesichts der radikalsten Naturereignisse zu überleben. Auf der anderen Seite hat der Mensch mutwillig und bewusst das Gleichgewicht der Natur gestört, und es wird ein größerer Kampf sein, damit fertig zu werden - eher ungleich wahrscheinlich in dem Sinne, dass die Natur die Oberhand behalten wird. Es gibt keine Konstruktion, keine Pyramide, die dem Vergleich standhält. Mich tröstet jedoch der Gedanke, dass die Architektur eine humanistische Disziplin ist: Sie trägt das Wissen, die Kultur, die Tradition eines Gebietes in sich. Als Designer glaube ich fest daran, dass das Territorium der Erinnerung ein grundlegendes Instrument ist, um dem Menschen einen Raum zum Leben zu geben.

 

Mehr als einmal haben Sie uns daran erinnert, dass das Entwerfen eines kleinen Objekts wie auch eines ganzen Gebäudes immer noch eine Möglichkeit ist, eine Vision der Welt auszudrücken, den Wunsch, sie besser, gastfreundlicher, lebens- und freudvoller zu machen. Welche Hinweise, welche Anregungen dazu könnten Ihrer Meinung nach den jüngeren Architektengenerationen in Zukunft helfen?

 

Im Laufe meiner langjährigen Tätigkeit habe ich feststellen können, dass das Thema der Gotteshäuser vielleicht dasjenige ist, in dem der Sinn der Entwurfsarbeit am besten zum Ausdruck kommt. Die Auseinandersetzung mit den grundlegenden Elementen wie dem Denken und Leben des Menschen, den Beweggründen seines Wesens, seinen Fragen, bedeutet, in das tiefste Verständnis für Architektur einzudringen.

 



Kirche St. Johannes der Täufer, Mogno, Schweiz (1986-1996).
Foto © Pino Musi

 

Im sakralen Raum fand ich den Ausgangspunkt der Schwerkraft, des Lichts. Und ohne Licht gibt es keinen Raum, kann es keine Architektur geben. Das Konzept der Grenze, der Schwelle, ist ein weiteres grundlegendes Element einer Konstruktion. Ich versuche immer, diese Begriffe zu identifizieren und ihnen Bedeutung beizumessen, durch die die Bedingungen des Gleichgewichts zwischen Mensch und Umwelt bestimmt werden.

 

Ich halte es jedoch für nutzlos, sich in Rhetorik zu ergehen; der Mensch hat sich schon immer gefragt, warum es sich lohnt zu kämpfen, zu arbeiten und an sein eigenes Tun zu glauben. In dieser Richtung kommt uns der Beitrag der Künstler zu Hilfe. Nur ihnen ist es wirklich gelungen, in ihren Werken die Probleme des Lebens, des heutigen Menschseins auf der Erde, die Ängste, aber auch die Freude etwas zu erreichen und das, was uns glücklicher macht, tiefgründig zu artikulieren.

 

Ich glaube, dass die Architektur aus der Erfahrung, aus der Fähigkeit sich zu erinnern, die Kraft schöpfen kann, um sich neuen Herausforderungen zu stellen. Ich würde es eine spirituelle Bedingung der Existenz nennen. Wir sind nicht allein, wir wurden nicht aus dem Nichts erschaffen, und wir haben die Fähigkeit, die Tiere vielleicht nicht haben, durch historische Erinnerung mögliche Lösungen zu finden.

 

Dieser Artikel ist eine übersetzte Bearbeitung des Textes des Originalautors, Enrico Leonardo Fagone

Die Sichtweise der großen Meister - Mario Botta
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