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Höchste Zeit für die 180°-Wende

30. September 2019

 

Dass unsere Ressourcen und Rohstoffe knapper werden, ein Artensterben im Gange ist, der Meeresspiegel schneller als erwartet steigt und all das einem Ungleichgewicht mit der wachsenden Weltbevölkerung gegenüber stehen, ist spätestens seit den Weckrufen durch Fridays For Future ein Thema, das die Welt bewegt. Oder besser: bewegen muss. Eigentlich kann dieser Kampf fast nicht mehr gewonnen werden, wenn nicht sofort – und darauf liegt die Betonung - ein radikales Umdenken einsetzt.

 

Von Barbara Jahn

 

Spannend ist, dass das bisher verherrlichte Recycling eigentlich nicht das Ziel sein sollte. Zwar ist es immer noch besser, als die komplette und unwiederbringliche Vernichtung von Rohstoffen. Aber: Jedes Recycling bedeutet einen Qualitätsverlust. Materialien werden damit downgecycelt und wer in dieser perfektionistischen Wegwerfgesellschaft möchte schon ein Produkt, das nicht 1A-Qualität hat. Ob sich das je ändern wird?

 

Neue Ansätze

In genau diese Kerbe schlägt das Konzept Cradle to Cradle - von der Wiege zur Wiege, das genau das Gegenteil von „Von der Wiege zur Bahre“ darstellt. In den 1990er Jahren von Chemiker Prof. Dr. Michael Braungart und Architekt William McDonough entwickelt, beruht die Vision einer abfallfreien Wirtschaft und konsequenten Weiterverwertung auf kontinuierlichen Materialkreisläufen, die alle verwendeten Stoffe dauerhaft als Werkstoffe behalten. Michael Braungart sagt über seine Konzeptidee: „Prozesse, bei denen es keinen Abfall, sondern nur Nährstoffe gibt, sind überall in der Natur zu beobachten. Dieses regenerative System ermöglicht einen grundlegenden positiven Neubeginn der Beziehungen von Ökonomie und Ökologie.“ Das Cradle to Cradle-Konzept fordert einen Paradigmenwechsel in der Produktionsweise: intelligentes Produktdesign soll zu definierten Materialien in kontinuierlichen Stoffkreisläufen führen, welche der Umwelt nutzen statt schaden. Das Konzept kennt keinen Abfall. Das bedeutet, dass jedes Produkt so entwickelt und hergestellt werden sollte, dass am Anfang bereits an das Ende gedacht wird, um erst gar keine Abfälle zu produzieren.

 

Rolle des Vorreiters

Das Schweizer Unternehmen Bauwerk Parkett hat sich dem visionären Konzept verschrieben. Das gesamte Geschäftsmodell wurde umgestellt, heute werden bereits 60 Prozent des Sortiments zertifiziert am Standort Sankt Margrethen hergestellt. Die Parkettriemen werden im Werk zurück genommen, dort von den Mattenresten befreit, die wiederum an den Hersteller zum Recyclen zurück gegeben werden, aufgearbeitet, mit einem neuen Oberflächenschutz versehen und zum Wiederverkauf bereit gestellt. Albin Kälin, Geschäftsführer und CEO von EPEA Switzerland, hat intensiv mit Bauwerk Parkett für die Zertifizierung der Produkte zusammengearbeitet: „Die Vision einer Welt ohne Abfall fordert eine Transformation der Industrie, der Nutzung der Produkte und die Schließung der Kreisläufe. Die Qualität der Rohstoffe bleibt über mehrere Lebenszyklen erhalten. Diese Wege aufzuzeigen und zu gehen, schafft den kommenden Generationen die Grundlage dafür, dass Rohstoffe überhaupt vorhanden sind und nutzbar bleiben.“

 


Die Kollektion Trendpark von Bauwerk Parkett trägt das Cradle-to-Cradle Zertifikat in Bronze.

 

Voller Visionen

Ein niederländisches Unternehmen arbeitet hart daran, diesen High Level zu erreichen: der Teppichhersteller Desso. Im Konzern ist man der Meinung, dass die Materialhygiene im Rahmen der Verpflichtung zur Kreislaufwirtschaft und zu Cradle to Cradle eine wesentliche Rolle spielt. „Wenn man gesunde Produkte erzeugen möchte, muss man wissen, was die Produkte enthalten. Aus diesem Grund haben wir uns das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 all unsere Teppichfliesen gemäß den C2C-Designprinzipien zu entwickeln. Um dies zu erreichen, müssen wir zunächst Transparenz dahingehend erreichen, was wir in unseren Materialien verwenden“, lässt man bei Desso wissen. Tatsächlich sind bereits 95 Prozent der Desso Teppichkollektionen zertifiziert. Cradle to Cradle ist ein Konzept, das die Natur zum Vorbild hat. Materialien werden als Nährstoffe betrachtet, die in gesunden, sicheren Strömen zirkulieren sollten. Bei der Produktion nach C2C ist das Ziel, gesundheits- und umweltförderliche Materialien zu verwenden. Alle Produkte werden so konzipiert, dass sie nach ihrem Gebrauch in geschlossene Kreisläufe eingebracht und hochwertig wiederverwendet werden können.

 


Desso will bis 2020 alle Produkte nach den C2C-Designkriterien herstellen.

 

Zwei Fliegen, eine Klappe

Gutes Design für ein gutes Gewissen: Als eines der ersten Unternehmen überhaupt hat Büromöbelhersteller Steelcase eine Cradle-to-Cradle-Zertifizierung erhalten und dieses Konzept fest in die Unternehmensphilosophie integriert. Mehr als 50 Produkte erhielten bereits diese für die Zukunft so wichtige Auszeichnung. Was mit Stuhl Think und Tisch Ology begann ist nun tief in der Produktion verwurzelt. Um negative Umwelteinflüsse so weit wie möglich zu reduzieren, werden alle Inhaltsstoffe genauestens geprüft. Nur so können alle bedenklichen Chemikalien und umweltschädlichen Materialien aus der Lieferkette entfernt werden. Steelcase hat eine Pionierrolle übernommen und fungiert mit einigen anderen ambitionierten Herstellern als Botschafter für die gute Sache. Cradle-to-Cradle sollte nicht als Recycling verstanden werden, sondern als großartige Möglichkeit, Dinge aus ganz natürlichen Komponenten entstehen zu lassen, um sie am Ende ihres Wegs der Erde wieder rein zurückgeben zu können.

 


Viele Produkte von Steelcase sind ebenfalls Cradle-to-Cradle zertifiziert.

 

Doch Vorsicht

Der Wiener Wirtschaftsethiker Rahim Taghizadegan betrachtet das Konzept mit einem etwas kritischeren Auge: „ Cradle to Cradle kann als Produktionsinnovation großen Mehrwert stiften. Es bietet aber in der Überdehnung eine gewisse Gefahr, wenn es Leute anspricht, die weder Investitionen aus eigenen Mitteln verantworten, noch sich mit ihrer individuellen Verantwortung als Konsument zufrieden geben, sondern ungeduldig nach der Weltverbesserung trachten. Dann drohen enttäuschende Hypes und bürokratische Projekte.“ Genug Stoff also, der auch weiterhin zum Nachdenken anregen wird. Die Diskussion über verschiedene Positionen ist mit den Vortragsreihen von Bauwerk jedenfalls mächtig in Gang gekommen. Eine wunderbare Sache, deren Chance in der intelligenten und breitenwirksamen Umsetzung liegt und hoffentlich genutzt wird.

 

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